Der Hof meiner Großeltern lag im Allgäu. Windschief geworden, hatte er einige hundert Jahre lang seinen Bewohnern sein bergendes Dach gewährt und sie vor den Unbilden der Jahreszeiten beschützt. Das hatte er gebüßt mit Scharten und bleckenden Stellen, durch die das Flechtwerk blickte, auf das er mit Lehm gebaut worden war. Er hatte keinen Keller, sondern nur ein blindes Loch unter einer Luke. Über dieser führte eine knarzende Stiege in einem viel zu steilen Winkel mit eigensinnig bemessenen Stufen nach oben zu den Schlafkammern. Jeder Schritt hinauf – wie auch hinab – musste neu berechnet werden, da sich beim Bau des Hauses die Bauern wohl jedem bayerischen königlichen Standardmaß verweigert hatten. Ihre Art des Widerstands, der sich allerdings nicht auf den König, sondern all ihre Nachfahren auswirkte, die nächtens in völliger Finsternis bei Eiseskälte tastend den Weg hinab zum Abort finden mussten, der sich außerhalb des Gebäudes befand in einem hölzernen Verschlag, hinter einer rohen Holztüre, die nicht schloss und nur zugeklemmt werden konnte, über einem riesigen, quadratischen Loch zu einer gärend finstern Tiefe. Doch trat man sommers aus der Tür des Hofes, so reckten sich im Sonnenschein wie Kaninchen im Stroh die Alpen auf dem Horizont und spitzen ihre Ohren als Gipfel achtsam ins königlich bayerische Weißblau. Dort verbrachte ich die Sommer. Dort – so scheint es mir heute – verbrachte ich meine gesamte Kindheit und Jugend. Mein Vater, als Preuße nicht von dort stammend, war nur zähneknirschend im Kreis der allerkatholischsten Familie aufgenommen worden. Ein serviler Reflex allerdings, der den Bauern nicht nur gegenüber König, sondern vielmehr gegen den fernen preußischen Kaiser wohl immer noch als Schrecken in den Knochen steckte, verlangte ihnen ihm eine Art von unterwürfiger Verehrung ab. So zumal mein Vater Soldat und Offizier war und den schließlich vom Kaiser überkommenen Waffenrock trug, die Kragenspiegel verziert mit leuchtendem Orange und silbernen Schwingen auf Indigo. Es war mein Vater, der Fremde, der mich früh schon, da konnte ich noch nicht schreiben, auf jene Gipfel führte, die sich da aufreihten vor uns und deren Namen ich alle aufzählen konnte und statt des Vaterunsers in der Dorfkirche vor mich hinmurmelte. Ich durfte auf unseren gemeinsamen Gipfelstürmen, nur er und ich, das aufgerollte Seil quer über den Schultern tragen, leuchtend gelb und beruhigend blau geflochten, wie es war.
Das Haus hatte einen einzigen Wasserhahn, der in der Küche aus der Wand ragte und sein Messingmaul leckend über eine alte, verstoßene Wanne hielt. War die Wanne voll, musste man sie aus dem Haus tragen und das aufgefangene Wasser wurde mit Schwung auf den ungepflasterten Hof gekippt. Die Hühner stoben heran und pickten hektisch hackend im seifig trüben Wasser in der trügerischen Hoffnung doch eine Leckerei zu ergattern. Die Wanne durfte nicht zu voll werden, sonst konnte man sie nicht mehr allein auf den Hof tragen. Es hatte keinen Abfluss im Haus. Der Hahn war irgendwann einmal eingebaut worden, Messingrohre, mit Kalk übermalt, liefen auf der Wand zu irgendeinem Zufluss, der ein Wasser brachte, das zu drei gleichen Teilen aus Nass, Stein und Kälte bestand. Füllte man sich ein Glas damit – es waren immer leer gewordene Senfgläser, die im sogenannten Küchenkasten standen – so brauchte es einige Minuten, bis das trübe Weiß sich setzte. Jeder Topf in der Küche hatte auf seiner Innenseite eine dicke Schicht Kalks. In solch einem Topf wurde auch das Wasser erhitzt, das mein Vater brauchte, um sich zu rasieren. Er füllte eine Schüssel damit und trug sie zusammen mit seinem Rasierzeug hinaus vor die Haustüre und stellte alles auf der schrundigen Holzbank, die dort – im ganz anderen Winkel schief als der Hof – an der Wand stand unter einem der Fenster. Hinter diesen Fenstern saß meine Großmutter tags wie nachts an ihrer Nähmaschine, die von den krampfadrigen, ruhelosen Füßen meiner Großmutter angetrieben, pausenlos beruhigend satt in ihrem Öl tackerte. Draußen im Sommer stand mein Vater im Feinripträgerunterhemd, das die Luftwaffe ihm gegeben hatte, und seifte mit dem Rasierpinsel sein Kinn ein, das kleine, quadratische Fenster diente ihm als Spiegel. Auf dem grob gemaserten, pockennarbigen, weißen Holz der Bank standen: eine Schüssel mit eiskaltem Kalkwasser, die dampfende Schüssel mit dem heißen Wasser, ein steifes, trockenes kleines Handtuch, das Rasierwasser, ein Rasierpinsel, ein Tiegelchen mit der Rasierseife und ein silberner Rasierhobel. In diesen hatte mein Vater behutsam und mit großer Vorsicht frisch eine neue Klinge eingespannt. Der Rasierpinsel machte ein sattes, schmatzendes Geräusch, während er auf den Wangen, Kinn und dem Hals meines Vaters einen festen Schaum befriedigend mehrte. War das Kinn ausreichend eingeschäumt, nahm mein Vater den silbernen Hobel, setze ihn knapp über dem Wangenknochen an und zog ihn konzentriert über seine Haut. Zug um Zug, Spur für Spur legte er so sein Gesicht wieder frei, nur frischer, glatter, gespannter, blauer. Unter jedem Zug kam ein befriedigendes, knisterndes Geräusch hervor, das anzeigte, dass alles richtig und nach den Regeln der Kunst verlaufe. Nach jedem Zug wurde der Hobel im heißen Wasser ausgewaschen. Verbliebene weiße Schaumreste hinter den Ohren etwa wischte er mit dem trockenen Handtuch fort. Sodann beugte er sich über die Schüssel mit dem Eiswasser und nahm in seine großen Handschalen so viel Wasser wie möglich auf und hob es sich ins Gesicht um es immer wieder in großem Schwall dort zu verteilen und allen restlichen Schaum oder Blut fortzuwaschen. Er drehte sich zu mir, der ich mit baumelnden Beinchen auch auf der Bank in der Sonne saß und sagte: „Du musst immer mit dem Strich rasieren, nie dagegen und zum Schluss kaltes Wasser nehmen, so kalt wie möglich! Das verschließt die Poren, stillt die Blutungen der kleinen Schnitte und beruhigt die Haut.“ Sich aufrichtend nahm er das Handtuch und trocknete sein Gesicht. Zuletzt griff er nach dem Rasierwasser und drehte den goldenen, metallenen Schraubverschluss auf dem schlanken, hohen Glasgefäß auf, es machte dieses schabende, gleitende, großzügige Geräusch im Glasgewinde. Er kippte sich mit ein, zwei kräftigen Stößen einen Schwall Rasierwasser in die hohle Hand, verrieb es zwischen beiden Händen und rieb sich das frische Rasierwasser auf Kinn, Wangen und Hals. Er verzog ein wenig das Gesicht, es musste wohl etwas brennen, gleichzeitig stöhnte er genüsslich auf. Ein pfeffriger, frischer, heißer Duft strömte aus. Es roch nach Sommer, nach Vater, nach dem Kalk der Alpen, nach dem warmen Fell der Kaninchen, nach Kraft, nach dem Eis des Wassers nach dem Silber der Offizierssterne, nach einem Kondensstreifen im königlichen Weißblau.
Jahre später waren Ferien und wieder Sommer, als ich fand, der gesprossene Flaum auf meiner Oberlippe und Wangen und Kinn müsse fort. Ich trank zwar noch Malzkaffee und noch nicht den echten meiner Großmutter mit Kondensmilch, doch ich fand es sei nun an der Zeit: Ich bereitete in der Küche das heiße Wasser auf dem Herd, ich stellte mir alles hin auf die Bank, geliehen aus dem Bestand meines verstorbenen Großvaters: Rasierpinsel, Rasierhobel, Rasierseife, Tiegelchen, Klingen, jede einzeln eingepackt in ein Briefchen aus speckigem Papier, Rasierwasser. Meine Großmutter hatte mir die Utensilien herausgegeben, sie standen noch dort, wo sie wohl zu Lebzeiten meines Großvaters immer gestanden hatten in einem sogenannten Kasten hinter einem quietschenden, braunen Holztürchen. Zuletzt waren die Sachen verwendet worden, als mein Großvater von meiner Mutter nach seinem Sterben zum letzten Mal rasiert worden war, damit er eine schöne Leiche sei. Jetzt nahm ich die Sachen; Der Rasierpinsel hatte noch die Steifheit, die ein Rasierpinsel hat, wenn man ihn auswäscht und dann trocknen lässt. Ich rieb den Haaren die Steifheit aus, sofort wurden sie wieder dachsweich. So stand ich im Sommer vor der Holzbank im Staub des ungepflasterten Hofes, vor einem der Fenster. Die Hühner gackerten um mich her, die Katze strich mir mit ihrem sonnenheißen Pelz um die Beine. Vor mir dampfte das heiße Kalkwasser in der Schüssel. Im Tiegelchen rührte ich die Seife zu Schaum und verteilte ihn auf meinen Wangen, auf meinem Kinn, auf meinem Hals. Ich holte eine frische Klinge aus ihrem Briefchen, obwohl sicherlich schon viele Jahrzehnte alt blinkte sie noch immer gleißend und scharf. Ich spannte sie behutsam und vorsichtig in den silbernen Rasierhobel. Ich setzte etwas über dem Wangenknochen an und zog den Hobel über meine Haut: Es knisterte leicht – nicht so satt und breit wie bei meinem Vater seinerzeit, doch befriedigend genug. Zug um Zug folgte ich den Regeln der Kunst. Ich beugte mich übers Eiswasser, nahm auf davon, was ich nur konnte mit meinen viel kleineren Händen, als sie mein Vater gehabt hatte. Das eiskalte Wasser erfrischte mich aufs Herrlichste. So herrlich konnte nichts andres sein, da waren sich ferner, finster Kaiser und verträumter, lohengrinender König einig, und sie ließen einmal das Zanken sein. Ich richtete mich auf und blickte ins spiegelnde, blasige Glas des Fensters. Dahinter schwebten die Augen meiner Großmutter, die von ihrem „Gnäh“ aufgeblickt hatte. Ich sah mein Spiegelbild mit glattem Kinn, flaumlos ermannt. Ich sah sich spiegelnd die sich in den Sommer reckende Kette der Kaninchenberge hinter mir. So schaue ich heute noch in den Spiegel, wenn ich mich rasiere und sehe die aufblickenden Augen meiner Großmutter schwimmen und hinter mir die erstürmten Gipfel und murmle ihre Namen: „Säuling, Aggenstein, Rote Flüh, Gehrenspitze, Kellenspitze, Gimpel.“